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Ratatouille (Film)

GLR | 18.4.2010

Animationsfilm des Pixar-Studios
Regie: Brad Bird
USA 2007


Doppeldeutigkeit

Das Frappante an diesem scheinbar nur der Unterhaltung dienenden, sich gleichzeitig an Kinder wie an Erwachsene wendenden computergenerierten Trickfilm ist, daß er auf zwei weit voneinander entfernten Bedeutungsebenen betrachtet werden kann: als fröhliche, spritzige, quicklebendige Komödie mit zahlreichen gutgemachten Bildern und Figuren einerseits, oder als tiefes Gleichnis für die wohl wesentlichste Dimension des Lebens andererseits. Ich vermute, daß die zweite Ebene Zufall ist und daß sich die Macher des Films ihrer nicht bewußt waren, und doch transportiert ausgerechnet dieser "Kinderfilm" sehr klar und für den, der genauer hinschaut, auch sehr offensichtlich eine ganz entscheidende Wahrheit, wie sie selten im Alltagsleben in dieser Reinheit anzutreffen ist.

Aufschlüsselung der zweiten Verständnisebene

Der Schlüssel, den ich für die zweite Verständnisebene anbiete, lautet überblicksmäßig gefaßt:

  • die Ratte Remy = die Wahrheit, die in jedem Menschen wohnt, sowie die Möglichkeit, diese ohne Umschweife sofort zu erkennen
  • der junge Koch Linguini = der im Alltagsleben verstrickte, irrende Mensch, der im Spannungsfeld zwischen Selbstvergessenheit und Selbstentdeckung steht
  • der Geist des verstorbenen Meisterkochs Gusteau = der Guru und innere Führer
  • der Kritiker Anton Ego = wie der Name schon sagt: das Ego, Hauptgegner und Bedrohung der Ratte (der Wahrheit)
  • der Küchenchef = die Tücke des Alltagslebens, die korrumpierende und intrigierende Gegenkraft; nur auf vordergründigen Nutzen fixiert; Hauptgegner des jungen Kochs (des Menschen)
  • die Küchenkollegin = erotische Verstrickung, das Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Alltagskomplikation für den jungen Koch verschärfend

Daß die Wahrheit hier in Form einer Ratte als Hauptfigur auftritt, ist natürlich sensationell und (unbewußt) genial zugleich. Ausgerechnet die Ratte ist der beste Koch von ganz Frankreich. Nicht etwa, weil sie eine "Schulung" durchlaufen hätte; nein: sie hat einfach von vornherein den Sinn fürs Echte. Ganz dem Credo von Gusteau, dem Meisterkoch, entsprechend, dessen berühmter Kochbuch-Bestseller den Titel "Jeder kann kochen" trägt: Jeder hat diesen Sinn fürs Echte. Oder anders gesagt: Jeder kennt die Wahrheit. Und zwar von vornherein. Im Film geht es immer um Geschmacks- und Geruchssinn, aber gerade diese zählen beim Menschen zur primären Wahrnehmung, im Gegensatz zu den visuellen und akustischen Sinnen, die weitaus mehr vom Verstand beeinflußt sind; und so können diese auch gut als Chiffre für Wahrheitsempfinden im generellen Sinn gesehen werden.

Den gewöhnlichen Menschen unterscheidet von dieser Ratte Remy, daß er die Wahrheit zwar ebenfalls kennt, aber vergessen hat und auch nicht mehr kennen will. So gerät hier unser junger Koch von einer Verstrickung und Komplikation in die nächste. Sein Glück ist, daß die Ratte ihm beim Kochen auf dem Kopf sitzt und ihn unsichtbar steuert: wodurch er zu ungeahnten Meisterleistungen imstande wird.

Das eigene Wahrheitsempfinden wird als minderwertig angesehen und verleugnet

Die Einstellung nicht nur dieses jungen Kochs, sondern die Einstellung jedes Alltagsmenschen ist, daß seine eigene Wahrheit minderwertig ist: eben wie eine Ratte, also so etwas wie ein oft nur lästiges Ungeziefer. Der vermeintliche und scheinbare Herrscher, der alles dominiert, ist nun der Kritiker Anton Ego (also das Ego). Eine fahle, verbitterte Figur, ein rechter Unsympath, aber wer hinter die Kulissen dieses Popanzes zu blicken vermag, ahnt bereits, daß dort die Suche nach echter Wahrheit tobt — jedoch, wie bei einer unterdrückten Leidenschaft, nach außen noch nicht sichtbar. Die äußere Blässe und Kälte der Figur symbolisiert diesen Zustand auf unnachahmliche Weise. Gabe es einen Oscar für Trickfilmgestalten, so müßte ihn diese hier erhalten!

Der Kritiker Anton Ego (= das Ego) hat sich in seiner eigenen Weltsicht eingekapselt. Messerscharfe Kritik ist zugleich seine Angriffs- wie seine Verteidigungswaffe. Seine hochentwickelten Verstandeskräfte ermöglichen es ihm, sich geschickt aus jeder Bedrängnis zu retten — während er gleichzeitig stumm an der Perfektion seines selbstgeschaffenen Gefängnisses verzweifelt. Er ist auf konventionellem Wege nicht mehr zu retten; man kann ihn einfach nicht mehr erreichen. Um es klar zu sagen: das Ego steckt in der ultimativen existentiellen Sackgasse; es kann nur noch durch die Erleuchtung kuriert werden.

Die Erlösung des Egos

Wie es im Film schließlich zu dieser Auflösung kommt, zählt zu den schönsten Momenten der Filmgeschichte und wird jeden, der noch etwas Gefühl im Leib hat, zutiefst anrühren. Die einfache, in der Kindheit verlorengegangene, durch das immer stärker verkünstelte Ego verdeckte und verratene Wahrheit kommt wieder ans Licht und erlöst den Kritiker. Zugleich entdeckt er auch seine konstruktiven, positiv wirkenden Fähigkeiten wieder.

Wohlgemerkt: die Erleuchtung ist keine neue Erkenntnis, sondern die Wiederentdeckung eines ständig latent vorhandenen, aber verschütt gegangenen inneren Wissens.

Die Ratte (die Wahrheit) bleibt in diesem Film, wie auch im Leben, immer sie selbst. Sie braucht sich nicht zu ändern; sie durchläuft kein Entwicklungsdrama. Auch da, wo Gesellschaft, Freundschaft, Familienbande, also jede Form von Außenbeziehungen eine Rolle spielen, entscheidet sie sich immer für das innere Wissen und bleibt ihm treu.

Guru und innere Wahrheit

Das ist jetzt zuviel des Hineininterpretierens in einen simplen, auch noch amerikanisch-oberflächlichen, Trickfilm? Es kommt noch besser: Was eigentlich steckt hinter diesem ominösen Geist des verstorbenen Meisterkochs Gusteau? Ich habe es oben schon geschrieben: Er ist der spirituelle Guru. Die Ratte (die Wahrheit), auch wenn sie sich selbst nicht verfälscht, hat durchaus ihre schwachen Momente, in denen sie zu unterliegen droht. Der Geist des Meisterkochs weist ihr in allen Krisen den richtigen Weg.

Gibt es diesen Geist überhaupt, oder ist er nur Einbildung? Das berührt unmittelbar und sehr subtil die Frage, was ein Guru ist (eine Frage, die in der westlichen Kultursphäre immer nur falsch und irreführend beantwortet wird). Auf eine Weise projiziert sich die Ratte diesen Geist selbst, der ihr dann im entscheidenden Moment den richtigen Weg weist. Auf eine andere Weise ist Gusteau aber etwas völlig Unabhängiges, eine Art raum- und zeitlose Wahrheit. Es ist die Wahrheit, daß "jeder kochen kann" — aber es macht eben den entscheidenden Unterschied, sich daran auch noch in der größten Krise und bei größter eigener Unsicherheit und Hilflosigkeit zu erinnern! Die Hilfe (der Guru) ist in einem selbst, und sie ist nicht in einem selbst — beides zugleich trifft zu! Es gibt jedenfalls keinen noch so kleinen Hauch von Distanz zwischen dem Fingerzeig des Guru und innerer Wahrheit.

Der Guru selbst ist tot, er kann nichts machen, sondern schaut dem Treiben der Akteure bloß noch zu. Es braucht die lebendigen Figuren, um das Drama "Suche nach der Wahrheit" in Szene zu setzen und eine gute Lösung für die (selbstgeschaffenen) Komplikationen zu finden.

Brad Bird On Ratatouille | Empire Magazine

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