© Marco Holmer, Gerd-Lothar Reschke | 2.6.2008, 10.6.2011
Hesse war für mich ein wichtiger Autor. Seine feinfühligen Bücher haben mir immer etwas gegeben, denn ihr zeitloser, traumhafter Charakter kam mir entgegen und sprach von etwas Tieferem, das in anderen Büchern nicht zu finden war.
Im Kern geht es bei Hesse um Selbsterkenntnis und um die Verbindung zu einem spirituellen Lehrer, der die Zusammenhänge um das falsche Selbstbild versteht. Als ich die Hintergründe darüber erfuhr, daß Hesses Büchern echte Erlebnisse zugrundeliegen, wurden mir viele Zusammenhänge klar. Einerseits verstehe ich jetzt seine Bücher besser, in denen sich seine inneren Kämpfe und Zwiespälte wiederspiegeln, andererseits haben sie auch viel von ihrem Reiz für mich verloren. Ich wurde da richtiggehend ent-täuscht, denn die wahren Zusammenhänge dahinter sind nicht so träumerisch, sondern eher ernüchternd und normal. Die Bücher lesen sich dann nur noch wie mystisch-romantische Verschleierungen seiner Erfahrungen.
Das eigentlich Interessante im Zusammenhang mit Hesse sind folgende Punkte:
Der spirituelle Lehrer von Hermann Hesse hieß Gusto Gräser. Der aus Siebenbürgen (heutiges Rumänien) stammende Künstler und Dichter kam Ende des 19. Jahrhunderts nach Mitteleuropa. In Wien verbrachte er einige Monate in der Künstlergemeinschaft seines eigenen Meisters, des Malers Karl Wilhelm Diefenbach. Nach einer krisenhaften inneren Auseinandersetzung löste er sich von ihm [1], vernichtete seine eigenen Bilder und wirkte von da ab allein. 1900 gründete er eine alternative Lebensgemeinschaft auf einem Weinberg bei Ascona, genannt Monte Verità. Das Ziel war, eine Gemeinschaft aufzubauen, in der einfaches, natürliches Leben in Selbstbestimmung möglich war, außerhalb der Zwänge der herrschenden Kultur.
Aufgrund von Uneinigkeiten innerhalb der Gemeinschaft wurde Gräser wieder ausgeschlossen. Er war den anderen Gründern zu radikal. Ich vermute, er wollte eine Gemeinschaft ausschließlich für Menschen, die sich aus eigenem Antrieb nach Wahrheitsfindung und einer entsprechenden Umgebung sehnten. Der Hauptgeldgeber Oedenkoven hatte dagegen andere Ziele. Er übernahm einige modische Ideen der alternativen Reformbewegungen (neue Kleidung, Licht- und Luftbäder, vegetarische Ernährung, usw.) und baute ein Sanatorium auf, um diese Umgebung einem zahlenden Publikum anzubieten. Sozusagen die Lightvariante der Gemeinschaft, ohne die Gefahren der gesellschaftlichen Ächtung und Selbstinfragestellung, aber verbunden mit einem Hauch von Exotik und Unangepaßtheit, ähnlich heutiger Esoterik- und Wellnessmoden.
Der Ruf der ursprünglichen Lebensgemeinschaft hatte sich aber schon weit verbreitet. Der Name Monte Verità war schnell europaweit unter den Anhängern vieler verschiedener Alternativbewegungen bekannt geworden. Er zog von weit her viele Sehnsüchtige an: Künstler, Dichter, Philosophen, Verfechter von politischen und gesellschaftlichen Utopien (Kommunismus, Anarchismus), sowie vor allem Anhänger reformerischer Bewegungen, die heute unter dem Namen Lebensreform zusammengefaßt werden (siehe z.B. Naturheilweisen, Vegetarismus, Reformhaus, FKK-Bewegung, Reformpädagogik, Wandervögelbewegung von Jugendgruppen, Jugendherbergen, usw., siehe Lesehinweise unten). Darunter waren z.B. Lenin, Trotzki, Kropotkin (kommunistischer Anarchismus), August Bebel (Mitbegründer der SPD), Max Weber (ein Begründer der Soziologie), C.G. Jung, Paul Klee, Oskar Maria Graf, Franz Kafka, Isadora Duncan (eine Begründerin des Ausdruckstanzes), Rudolph von Laban (Choreograf). Daß so ein kleiner Ort so große Wirkung hatte, sagt allein schon viel über die damalige Sehnsucht nach anderen Lebensumständen aus.
Nach dem Ausschluß kam Gräser nur noch abschnittweise zum Monte Verità; ansonsten lebte er auf ständiger Wanderschaft durch Europa. Ein längerer Aufenthalt und Zusammentreffen mit Hesse ist von 1916 bekannt, der Zeit, die Hesse im „Demian“ nacherzählte.
Aus den angegebenen Quellen und Gräsers erhaltenen Schriften kann man sich schnell ein recht gutes Bild machen von einem entschlossenen Menschen, der sich von niemand etwas vormachen ließ, sondern immer konsequent nach dem eigenen Empfinden handelte. Er hatte alle falschen Vorstellungen von sich und anderen hinter sich gelassen. Er hätte es auch dem zeitweise interessierten Hermann Hesse ermöglicht, sich von den seinen zu befreien, wenn dieser nicht da, wo es brenzlig wurde, davongelaufen wäre.
Zum weiteren Verständnis hilft noch, daß Gräser eine Zeitlang vor allem als Redner bekannt war.
Andererseits war er aber den öffentlichen Stellen ein Dorn im Auge. Er wurde häufig verhaftet, ausgewiesen, eingesperrt und wegen Kriegsdienstverweigerung vorübergehend sogar zum Tode verurteilt.
Gräsers Aufgabe als Hesses Lehrer bestand darin, immer genau auf die wunden Punkte zu zeigen, die Hesse von seiner Wahrhaftigkeit trennten — dies ist ein wichtiger Teil der Arbeit eines echten Meisters. Dabei ging es um Angst, verdrängte Wut und Sexualität, sowie um Eitelkeit. Gerade Eitelkeit ist ein zentraler Bestandteil von Hesses Ego gewesen: diese Eitelkeit führte ihn zu einem störrischen Beharren auf seinen eigenen Vorstellungen von Richtigkeit und Wahrheit und machte ihn von einem gewissen Punkt an unempfänglich für das offene Zulassen einer umfassenderen Wirklichkeit.
Zuerst einmal mußte ich mir klarmachen, daß Hesse sich tatsächlich niemals zu Gräser geäußert und sogar auf Nachfrage seine Verbindung zu ihm geleugnet hat. [2]
Die Beziehung zu seinem Lehrer war zweigeteilt: Einerseits liebte und verehrte er ihn, denn Gräser vertrat für ihn alles, wonach er sich sehnte: Kraft, Würde, Wahrhaftigkeit. Das spricht aus vielen seiner Bücher, in denen er Gräser in Form von eindrucksvollen Meisterfiguren verewigte und über ihn nachsann (z.B. Demian, Vasudeva, der Fährmann in „Siddhartha“, ebenso vergleichbar der Leo in „Morgenlandfahrt“, oder besonders herausragend: der Magister Ludi Josef Knecht im „Glasperlenspiel“).
Gleichzeitig fürchtete er ihn aber auch und zog sich zweimal von seinem Einfluß zurück, als es für ihn an die praktische Verwirklichung ging (das erste Mal 1907, nachdem er mit Gräser nackt und fastend in den Wäldern um die Grotte bei Arcegno lebte, zum zweiten Mal und endgültig 1919, als Gräser von ihm Unterstützung für seine eigenen Veröffentlichungen erbat und nie erhielt).
In seinen Büchern beschreibt Hesse deutlich persönliche Punkte, mit denen er zu kämpfen hatte. Eine gute Zusammenfassung geben die Selbstanklagen und Vorstellungen im magischen Theater des Romans „Der Steppenwolf“. Die Punkte lassen sich aber auch an vielen anderen Stellen finden. Siehe z.B. einige Zitate zu Sexualität [3] [4] [5] [6], Ängstlichkeit [7] , verdrängte Wut und ungenutzte Kraft [8] [9] , Selbständigkeit [10] , Eitelkeit und Literaten-Ego [11] [12]. Es finden sich noch viele Beispiele, wie er mit seinen Führer- und Meistergestalten über Gräser und das, was er von ihm erfahren hatte, nachdachte [13] [14] [15] [16].
Das Bild zeigt Hesse (Mitte) auf dem Monte Verità. Ich finde es besonders vielsagend. Alle Personen stehen entspannt und jede auf ihrem Platz in einer eigenen Haltung. Nur Hesse paßt hier offensichtlich nicht hinein. Angespannt drückt er die Knie durch, innerlich ganz versteift, so als müßte er sich zwingen, nicht gleich wegzulaufen. Verhärtet, ungelenk und deplaziert steht er mehr im Weg als auf einem eigenen Standpunkt und verdeckt ungewollt eine andere Person. Die Hände hat er tief vergraben, als wollte er sich irgendwo heimlich festhalten oder etwas verstecken. Mit der Körperhaltung im Profil ist er auch nur halb anwesend. Er fühlt sich sichtlich unwohl und ausgeschlossen. Der Grund für die äußerlich überhebliche, ablehnende Haltung liegt im Kompensieren der Unsicherheiten und echten Gefühle und im Verleugnen der Körperlichkeit.
Es gibt einige Erwähnungen von Hesses Aufenthalten in der Lebensgemeinschaft. Dort läßt sich herauslesen, daß er sich im Rummel der drängenden Lebensgemeinschaft unwohl fühlte. Ihm waren die Freizügigkeit, die nackten Tänze, aber auch marktschreierische Weltanschauungen zuwider [17]. Er wohnte abseits in einer kleinen Hütte, bzw. später in einem kleinen Gartenhäuschen auf dem Grundstück des vegetarischen Erholungsheims von Frau Neugeboren in Locarno-Monti, gegenüber dem Monte Verità. Auf seinen langen Ausflügen zum Malen und Wandern konnte er unauffällig Gräser treffen.
Hesse war von seiner Veranlagung her sehr ruhig und zurückhaltend. (Seine genaue, abgesetzte Sprechweise sagt hier sehr viel aus. [18]). Trotzdem zogen ihn die energischen Freiheitskämpfe der Monteveritaner an, die sich in wildem Aufbruchswillen, Idealismus und auch sexueller Freizügigkeit äußerten. Er selbst wollte daran nicht teilnehmen, sondern blieb lieber allein. Dieses Sehnen einerseits und Nichterreichenkönnen der Körperlichkeit andererseits drückt sich auch in seinen Büchern aus. Biografen konstruierten daraus dann einen metaphysischen Widerspruch zwischen „Ideal und Wirklichkeit“. Auf dieses „fleischliche“ Sehnen ließ sich Hesse dann noch als Fünfzigjähriger ein, was sich sehr gut im Steppenwolf herauslesen läßt. Im Vorwort zu „Krisis“, dem Tagebuch auf dem der Steppenwolf gründet, schreibt er:
Trotzdem kommt er bis zum Ende nicht von dem Beigeschmack des Lasterhaften und Sündigen los. Er vermischte in seiner Krise Sexualität mit seinem Alkoholmißbrauch und verachtete sich selbst mehrmals als „Schwein“, statt hier genau zwischen unleugbaren und suchthaften Impulsen zu unterscheiden.
Die Entlarvung gerade seiner Schwächen durch Gräser empfand Hesses Ego als schwere Schmach und Demütigung. Da er aber zugleich an seinem eitlen Selbstbild als „großer Künstler“ hing, konnte er auch nicht öffentlich zugeben, an diesem Punkt bloßgestellt worden zu sein. Deshalb verschleierte er seine Erlebnisse, sponn sie in Gedanken weiter und erträumte sich eine Rolle als Wegbereiter und Verkünder einer großen gesellschaftlichen Umkehr. Er vergeistigte sein spirituelles Versagen und abstrahierte es zu einem intellektuellen Produkt, das ihn selbst nicht mehr direkt betraf und ihm auch keine Veränderung seines konkreten Lebensstils mehr abverlangte.
Gräser hingegen paßte mit seinem unverstellten Auftreten überhaupt nicht in die damalige, biedere Gesellschaft des Kulturbetriebs und war keinesfalls vorzeigbar. Aber gerade in dieser Umgebung hatte sich Hesse seinen Namen gemacht und genoß die gesellschaftliche Anerkennung. Damit konnte er wiederum — zumindest teilweise — sein Gefühl der inneren Leere kompensieren, das ihn ja ursprünglich zu Gräser geführt hatte. Aber gerade in der Gegenwart seines Lehrers war Hesses Selbstbild als mit Auszeichnungen und Anerkennung versehenes Genie unhaltbar, vielleicht sogar lächerlich.
Hesse war klar, daß ihm die äußerliche Prominenz nicht die erhoffte Befriedigung bringen würde, sonst hätte er sich nicht immer wieder an Gräser orientiert und sich mit seinen Hinweisen auseinandergesetzt, bzw. sonst hätte er später nicht immer wieder seinen vertanen Chancen nachgetrauert, die er sich durch seine Verleugnung zuzuschreiben hatte. Jedoch war der Schritt in die Wahrhaftigkeit für Hesse unüberwindlich und erschien ihm wie ein unmöglicher „Sprung in den Weltraum“ [19]. Da er für sich selbst nicht zu seinem Vorhaben der Selbsterkenntnis stehen konnte, konnte er sich auch nicht öffentlich dazu äußern oder seine Verbindung zu Gräser offen zugeben.
Er wußte sehr gut, daß Suche nach Wahrhaftigkeit und Abhängigkeit vom Publikumsgeschmack sich nicht vertrugen. Ferner wollte er sein Selbstbild des berühmten Literaten nicht aufgeben. Er wußte um das Risiko, bei entsprechenden öffentlichen Äußerungen sein Ansehen zu verlieren, oder noch schlimmer: ebenso wie Gräser ausgestoßen, verfolgt, verhaftet und weggesperrt zu werden. Seine Unterstützung für Gräser blieb anonym[20] oder wie bei anderen Prominenten, mit denen Gräser Kontakt hatte (z.B. Thomas Mann), unverfänglich und humanistisch[21] [22].
Warum es heute — genau wie damals — völlig verpönt ist, die Hintergründe von Hesses Schriften öffentlich bekannt zu machen, erkläre ich mir so: Von der Masse und ihrem Kulturbetrieb wird solch ein Einfluß ignoriert, denn das Interesse liegt dort nicht auf Verstehen, geschweige denn auf dem Infragestellen von festgefügten Vorstellungen und Weltsichten. Sondern was zählt, sind Künstler, deren Produkte man vermarkten und als Ziel von Projektionen benutzen kann („wieder ein großer deutscher Dichter, sogar mit Nobelpreis, aus unserem Land“).
Außerdem ist der öffentliche, auf Geläufigkeit und Anklang orientierte Kulturbetrieb immer in erster Linie daran interessiert, daß seine Werte (virtuose Sprachbeherrschung, brillanter Intellekt, abstraktes Philosophieren, Produzieren von scheinbar die Zeiten überdauernden Kunstwerken) als die wichtigsten gelten. An spirituellen bzw. religiösen Fragen wie Selbsterkenntnis und echter Weisheit ist er nicht interessiert oder behandelt sie sogar als lästige Konkurrenz.
Sich dem aufweckenden Einfluß eines Meisters auszuliefern bedeutet eine tiefgreifende persönliche Erfahrung, die existenzieller ist als die Produktion und Verbreitung schöngeistiger Schriften und Ideen. Denn dabei wird das eigene Verständnis von Werten, Antrieben und Lebenausrichtung fundamental hinterfragt. Hesses Bücher weisen zwar in diese Richtung, zeugen aber eben auch — wenn man die Hintergründe kennt — von einer bedauerlichen Halbherzigkeit und letztlich auch von einem frustrierenden Steckenbleiben auf dem Weg zu sich selbst.
Weitere Links:
Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Verkäufen.
Startseite |
GLR Bücher |
HTML5
Copyright © 2025 Gerd-Lothar Reschke |
Impressum |
Datenschutz