© Marco Holmer | 3.1.2010
Österreichischer Dirigent und Komponist (1860 - 1911)
Gustav Mahler, 1892
Gustav Mahler ist ein herausragender Musiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zu seiner Zeit war er ein hoch angesehener Dirigent, insbesondere war ihm die Oper und die theatralische Seite der Musik wichtig. Als Komponist und Dirigent seiner eigenen Werke erntete er jedoch lange Zeit keine Anerkennung, sondern im Gegenteil meist sogar große Widerstände und üble Nachrede. Seine eigenwillige, unkonventionelle, herausfordernde Musik mit neuen Klang- und Zusammenhangsformen erschreckte die meisten seiner Zeitgenossen, Musiker wie Publikum. Anfangs bildete sich nur ein kleiner Kreis von Verehrern. Nach seinem Tod wurden seine Werke nicht mehr aufgeführt, als wäre man froh gewesen, den unbequemen Unruhegeist loszusein. Erst in den 60er Jahren wurde er wiederentdeckt und die öffentliche Meinung schwenkte fast ruckartig um, von Vergessen und Ablehnung hin zu Begeisterung und Verehrung. Seither wird Mahler weltweit Beachtung geschenkt. Er selbst hatte schon gesagt, daß die Zeit seiner Musik erst noch kommen müsse.
Seine Musik baut auf der damaligen Zeit auf, hat aber einen ganz eigenen Charakter und arbeitet sich mühelos immer weiter in eine völlige Eigenständigkeit vor. Mahler hat ein großes Talent, tiefere psychologische und emotionale Nuancen und Widersprüchlichkeiten in Musik auszudrücken und zu übertragen. Sie ist wie eine Sprache für Bereiche, die nur schwer in Worte zu fassen sind, bzw. für die es überhaupt keine passenden Worte gibt. Das hat damit zu tun, daß die zerrissenen, dunkleren Teile und inneren Zweifel, die er bearbeitet, meist unterdrückt werden und deswegen nur vage oder ungenau in allgemein verständlichen Begriffe gefaßt werden können. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß das insbesondere zu seiner Zeit galt, als z.B. die Psychoanalyse gerade noch in ihren Anfängen steckte (wenn man diese als einen möglichen Versuch ansieht, überhaupt erst eine allgemein verfügbare Nomenklatur für tiefere, seelische Vorgänge zu finden). Diese tiefere Dimension ist das Neue und Unwägbare, der für viele beängstigende Aspekt seiner Musik, die gerade deswegen weiter geht als das Bisherige.
"Conducting Mahler" (siehe unten) ist ein sehr gelungener Dokumentarfilm mit bewegenden Einblicken in Mahlers Musik und die Arbeit der Dirigenten und Musiker, die sie ausführen und auslegen.
Hier kann so ein Dokumentarfilm seine Stärken zeigen mit Audio/Video, zeitlichem und räumlichem Schnitt, Überlagerungen, Verdichtungen und Erweiterungen der Wahrnehmungsfähigkeit. Z.B. Die Musik und die Beobachtung der Musiker im Konstrast zu den Erklärungen der Dirigenten. Oder deren Kommentare sind direkt über die Musik gelegt bzw. die Musik tritt hervor und bestätigt des zuvor Gesagte.
Ein anderes Beispiel sind die Bilder von Bühnenarbeitern mit schweren Transportkisten und Pauken über die Musik einer Probe, während im nächsten Moment gezeigt wird, was mit diesen stumpfen Objekten möglich wird, wenn sie aus den Schalen kommen und als Instrumente benutzt werden. Nur mit diesen wenigen Eindrücken wird einem sofort klar, welcher Aufwand, Vorbereitung, Zusammenarbeit einer großen sichtbaren und unsichtbaren Menge von Menschen hinter einer dieser beeindruckenden Aufführungen steht. Was nötig ist, damit neben einem großen Orchester noch drei Chöre und Solisten vor dem Dirigenten zusammenkommen und auf den Punkt genau zusammenarbeiten, daß sogar bei kleinsten pianissimo-Stellen das Flüstern des Dirigenten noch durch den Raum hallt.
So ein hohes Maß an Einsatz und Genauigkeit ist zwar allgemein nötig für ernsthafte Musik, aber die Musik von Mahler fügt hier noch etwas hinzu. Es sind Werke mit sehr viel Inhalt, aber es sind keine fertigen Monumente. Sie stellen sich monumental dar und mit etwas Kleinerem kann Mahler sich gar nicht zufriedengeben. Aber sie sind gleichzeitig ungemein menschlich, in sich brüchig und unsicher, Neuland bei jedem Schritt, auch wenn das Handwerkszeug sitzt und das Material akkurat ohne jeden Zufall auskomponiert wurde. Der Komponist war sich formal immer sehr sicher, nicht nur über seine Harmonien, sondern gerade eben auch über seine dunklen Seiten, Zweifel, Lebenskämpfe, Leiden und Zerissenheiten. Genau diese Klarheit ist bemerkenswert und macht die Musik auf eine Weise sehr reif. Es wird hier nichts mehr peinlich berührt kaschiert oder hübsch bespielt, sondern die Tatsachen kommen ungeschminkt heraus. Aber trotzdem ist es kein chaotisches Delirium, sondern es passiert immer noch in einem Rahmen, nämlich im Leben eines greifbaren Menschen. Und das zu hören und zu erleben heißt, es passiert in mir. Das bin ich selbst.
Die Werke leben von dem Hintergründigen, das nicht in Noten notierbar ist. Es ist mehr ein Raum von Stimmungen und Andeutungen, den Mahler aufspannt und dem man sich nicht entziehen kann. Es kommt auch nicht auf irgendwelche selbstgestrickten Interpretationen an - sozusagen jeder Zuhörer hört etwas anderes. Nein, die Musik läßt trotz der mitschwingenden Unsicherheit keinen Zweifel. Sie hat eine definitive Richtung und steuert sicher auf etwas zu, das aber trotzdem als Ziel unbekannt ist.
Dazu im Vergleich erzeugt Musik wie z.B. von Schubert eine wunderschöne Harmonie beim Zuhören. Die Musik ist ein Impuls und ich schwinge als Zuhörer mit. Sie ist etwas, auf das ich mich einlassen kann und damit gewissermaßen die Kontrolle über die Erfahrung habe. Bei Mahler funktioniert das ähnlich bis zu einem Punkt. Dann werden seine Trittstufen brüchig und fallen auseinander. Alles stürzt ein und ich bleibe ganz allein zurück, finde mich ganz in der Mitte, umgeben, umzingelt von der Musik und ihren Anforderungen. Zuerst erschrocken und orientierungslos. Dann merke ich, daß ich auf mich zurückgeworfen bin und mit mir selbst zu tun habe. Erst langsam zeigt sich, daß das Auseinanderbrechen der Form und Sicherheiten keine psychedelische Wahnvorstellung oder Verrücktheit ist, sondern eine ganz andere, bislang unbekannte Dimension von ungeahnten Ausmaßen.
Die Musik wühlt auf, weil sie so brennend aktuell ist. Sie wirkt wie ein Heilmittel für die herrschende Orientierungslosigkeit, dümmliche Verflachungen, "everything goes" und die grasierende Anfälligkeit für Fremdsteuerung - die Symptome und Gefahren von allgemeinem Desinteresse, unüberlegtem Übernehmen von Denken anderer und von verantwortungslosem Treibenlassen im endlosen Strudel blinkender Verwirrungen unserer Zeit. Diese Musik läßt sich nicht konsumieren, sondern sie fordert mich heraus, sie piesakt mich und läßt mir keine Ruhe. Wer ernsthaft zuhört, muß aufstehen und sich stellen. Das ist die eine Seite. Genauso wird in der Musik aber auch klar, daß Rückgriffe auf Bisheriges nicht mehr funktionieren und eben nur das sind: hilflose Anleihen, Griffe in die Trickkiste vorgefertigter Antworten, die die Löcher nur scheinbar stopfen. Aus sich selbst heraus wird klar, daß hinfällig ist, was bislang scheinbar noch funktioniert hat. Dinge wie Tradition, Regeln, Restriktionen, Kontrolle.
Es ist erstaunlich, daß das schon vor einem Jahrhundert geschrieben wurde, als hätte Mahler schon weit in das 20. Jahrhundert und sogar bis in unsere Zeit vorausgeahnt. Aber nicht nur das unheilvolle Ahnen und das Dunkle sprechen daraus, sondern auch die bevorstehende, einzig mögliche Richtung, das Unbekannte. Wenn alles bisher Dagewesene zusammenbricht, bleibt nur übrig, die Bruchstücke einzusammeln und komplett neu anzufangen. Das Unbekannte bricht herein und es gibt keine Möglichkeit, es zu vermeiden. Der einzige aufrechte Weg geht durch mich hindurch. Es gibt keinen Weg an mir selbst vorbei. Diese Konsequenz ist das, was Gustav Mahler ausdrückt und für was er steht.
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